Folge 74 - Punkt 1
- Kucki 232
- 19. Juni 2023
- 6 Min. Lesezeit

Ich bin schon früh wach, um alles zu erledigen. Habe mich sowieso nur noch im Bett herumgewälzt und Michelle schlief sehr unruhig. Was soll's? Gibt eh viel zu tun. Habe mir jetzt auch eine kleine Liste gemacht, die ich in den nächsten Tagen und Wochen abarbeiten möchte, um vielleicht wieder etwas Ruhe reinzubekommen. Gestern Nachmittag habe ich noch viel Zeit mit Alex verbracht und ich war sehr froh drum, dass er da war. Er freut sich sogar schon sehr, mit Joel zusammenzuarbeiten. Hoffentlich kann der Junge auch bald wieder richtig raus. Dass ihm die Decke auf den Kopf fällt, merke ich immer mehr.

Heute möchte ich auf jeden Fall Punkt 1 meiner Liste abhaken. Das ist eigentlich die schwerste Hürde, aber so habe ich es hinter mir.

Und ich kann sagen, dass es ein gutes Zeichen ist, dass es nicht mehr regnet. Die letzten Tage war es hier nur am Regnen und die Stimmung war im Keller. Jetzt hat es endlich mal aufgehört und da muss es doch einfach mal bergauf gehen, oder nicht? Selbst dieser kleine Kerl hier, freut sich darauf, dass er endlich mal wieder raus kann.

Wenn ich Michelle immer so anschaue, muss ich fast wieder heulen. Sie ist noch so klein. Aus der Zeit, in der noch alles gut lief. Oder lief es da eigentlich schon nicht mehr gut? Ich hatte immer das Gefühl, dass alles in Ordnung gewesen wäre.

Nein, ich will nicht weiter drüber nachgrübeln, was hätte sein können oder hätte werden können. Ich möchte endlich wieder die Wogen glätten. Da gibt es zwar viele Baustellen, aber das schaffe ich schon irgendwie. Angefangen bei viel Papierkram von Anwälten, Polizei, zwischen Rechnungen und .... Liebesbriefen?! Alles klar. An Joel. Mit vielen Herzchen und sowas. Lege ich ihm einfach mal aufs Bett.
Und was bei mir Punkt 1 ist?

Tja. Auf jeden Fall muss ich bei Punkt 1 tief durchatmen, bevor es ans Eingemachte geht. Nochmal alles durchgehen. Nicht nervös wirken. Ganz ruhig bleiben.

Es klingelt durch und mein Herz fängt doch ganz schön an zu rasen. Keine Fehler mehr.

„Hey, Emily. Danke, dass du nicht gleich wieder auflegst. Äh, ähm. Hast du vielleicht Zeit? Können wir ..... reden? Geht das?“
Erst hat sie ja nichts gesagt und sogar wieder aufgelegt. Ein paar Minuten später klingelt jedoch das Handy und mit einem „Okay“ war das Gespräch aber gleich wieder schnell beendet.
Also heißt es warten. Und warten und warten.

Michelle fängt an zu quengeln und ich bringe sie eben ins Bett. Joel ist jetzt auch beim Arzt. Habe ihn eben schnell hingebracht, aber er möchte noch ein bisschen in die Stadt. Er kommt dann nachher mit dem Bus nach Hause. Ich hoffe sehr für ihn, dass alles gut verläuft.
Als ich im Flur an der Haustür vorbeikomme, sehe ich Emily dort stehen. Wollte sie gerade erst klingeln? Hatte sie überhaupt vor zu klingeln?

Wie dem auch sei: Ich öffne die Tür und deute Emily an, dass sie schon mal ins Wohnzimmer gehen soll. Immerhin lächelt sie Michelle kurz an. Das ist gut.
„So, süße Maus. Wir sehen uns nachher. Schlaf schön.“

Bevor ich zu Emily gehe, bleibe ich kurz noch im Flur stehen. Ich bin so nervös. Habe Angst, sie zu verletzen. Oder wieder mit ihr zu streiten. Irgendwie sowas. Davon haben wir doch jetzt aber genug gehabt. Jimmy ist immerhin tot und Karl sitzt im Knast. Einen weiteren Komplizen gibt es hoffentlich nicht. Aber nein. Ich konzentriere mich jetzt erstmal auf diesen einen Punkt.
Mit ganz viel Schweigen.

Doch dann:
„Marc? Ich weiß nicht, was ich mit dir noch bereden soll. Habe ich nicht schon genug kaputtgemacht? Ich habe Dinge gesagt, die mir jetzt leidtun. Die euch verletzt haben. Und du holst mich wieder hierher? Du hast, was Besseres verdient.“
Ja, ich denke, dass heute ein guter Zeitpunkt zum Reden ist. Ohne dass wir uns mit Vorwürfen bombardieren.

„Emily. Ich habe viel nachgedacht und wenn du denkst, du bist an allem schuld, dann täuschst du dich. Wir sind alle daran schuld. Und besonders Jimmy und Karl. Aber das ist jetzt gerade egal. Mir war nie so wirklich bewusst, dass da eigentlich noch was ganz anderes hintersteckt. Dass du verletzt bist. Angst hast. Oder warum solltest du dich plötzlich seit Joels Geburt so von allem distanziert haben, hm?“
Und ja. Ich sehe, dass ich zwar einen wunden Punkt erwischt habe, aber ich treffe den Nagel auf den Kopf. Emily fängt plötzlich an zu zittern und schaut ins Leere.

„Aber du musst auch bedenken, dass Joel dich jetzt braucht. Was kann er denn für diese blöde Gabe? Ich habe ihm vieles erzählt. Was wollen wir denn nun machen? Katharina weiß davon und wer weiß, wer das jetzt noch alles erfährt? Wollen wir das erneut zulassen? Wollen wir Joel wirklich weiterhin im Ungewissen lassen?“

Ja, ich werde jetzt etwas lauter, aber es ist so. So viel habe ich überlegt, was hier plötzlich los ist. War so auf Jimmy und Karl fixiert, obwohl da die ganze Zeit noch was ganz anderes war. Die magische Gabe. Emily hat nie was gesagt. Natürlich war sie viel am Weinen, als das Tor früher geschlossen wurde, aber ich dachte, sie käme einst drüber hinweg.
Und irgendwann wurde ihr der Kummer zu viel. Sie wusste nicht mehr, wohin damit. Auf jeden Fall nicht zu mir. Denn Karl hat ja alles in die Wege geleitet. Nein, er wusste natürlich nichts von diesem magischen Zeugs. Er hat nur Jimmys Aufträge ausgeführt. Das wird mir jetzt erst alles klar. So viel. Oh, man. Und ich habe immer noch das Gefühl, das war noch lange nicht alles. Oder doch? Ich weiß es noch nicht. Nur langsam sortieren sich meine Gedanken. Verstehe aber trotzdem so viel noch nicht.
Auf jeden Fall weiß Emily nicht, was sie sagen soll. Habe ich also recht?

Es fällt mir alles gerade so verdammt schwer. Habe ich noch Gefühle zu ihr? Ja? Nein? Möchte ich sie einfach nur beschützen, weil sie die Mutter meiner Kinder ist? Das muss ich alles noch rausfinden.
„Du, ich würde mich freuen, wenn du mit uns nach Sulani kommst. Wir wollen mal ein Wochenende als Familie zusammen sein. Die Kinder, du und ich. Wir müssen mal wieder zusammenkommen und reden. Immerhin bist du doch noch hergekommen, oder nicht? Das ist doch ein Anfang.“

Gerade schaut sie mich an, als könne sie die Worte nicht glauben.

„Ich meine das ernst. Und es ist okay, wenn es nichts mehr zwischen uns was wird und du mit dem Maik zusammen bist. Er war doch auch nur ein Opfer und vielleicht ist er ja ein netter Kerl, mit dem man mal ein Bierchen zusammen trinken kann.“
Okay, warum ich das jetzt gesagt habe, weiß ich absolut nicht.

Mist. Ich rede wohl zu viel. Niemals würde ich das so locker sehen, wenn ich Maik und Emily zusammen sehen würde. Boah. Nein. Niemals! Hmpf.
„Du willst echt mit mir in den Urlaub fahren? Einfach so? Alles vergessen? Mich machen lassen und sowas und ..... Einfach so?“

Okay, ich merke gerade selbst, wie ich das Gespräch immer mehr abwürge. Ich sage ja, dass Punkt 1 mein schwerster sein wird. Dass es einfach werden wird, habe ich zwar gehofft, aber dann irgendwo doch nicht geglaubt. Ich dachte, ich hätte es jetzt. Könnte alles klären. Mit ihr reden. Und dann ist plötzlich wieder alles weg.

Emily steht schließlich auch auf und gerade habe ich schon wieder das Gefühl, alles falschgemacht zu haben. Ich dachte, dieser Urlaub wäre eine gute Idee. Vielleicht hätten wir so alles bereinigen können. Vor allen Dingen mit Emilio. Aber so langsam habe ich keine Lust mehr, irgendwo hinzufahren.
Sämtliche Worte werden immer und immer wieder weggedrückt. Es fühlt sich an wie in einem Traum, wenn man versucht zu reden, aber keiner versteht dich. Ja, so ungefähr.

Und ich dachte, sie würde jetzt vielleicht ankommen und Joel helfen und nicht vor ihm weglaufen. Hat sie deswegen gesagt, dass ihr die Kinder egal wären? Hat sie einfach nur Angst? Ist der Schatten durch ihre Bestimmung so groß? Und ich fühle mich gerade so hilflos.
„Emily. Warte. Stopp, bitte!“

Okay, sie dreht sich schon mal um. Starrt zwar wieder ins Leere, aber besser, als wenn sie jetzt wegrennen würde.
„Emily. Ich möchte wirklich, dass du mit in den Urlaub kommst. So als Familie. Du brauchst keine Angst haben. Ich werde immer für dich da sein, egal was ist, okay? Ja, es ist alles total mies gelaufen in der letzten Zeit, aber du wirst immer eine Freundin bleiben.“
Verblüffend ist nämlich, dass sie immer noch den Ehering trägt. Hat das was zu bedeuten? Empfindet sie noch etwas für mich? Empfinde ich noch etwas für sie? Wieder ordentlich Matsch. Mehr fühle ich gerade nicht.
Doch eine Sache habe ich schon mal erreicht: Sie fällt mir plötzlich in die Arme und drückt mich ganz fest.
„Danke.“

Aber so richtig bin ich trotzdem noch nicht weitergekommen. Und was noch viel schlimmer ist, ist, dass meine Gedanken immer hin- und herpendeln. Mal sind sie bei Emily und mal bei Frau Steinberg. Emily, Frau Steinberg. Es dreht sich alles.
Und ob Emily mitkommt? So ein schwieriges Gespräch hatte ich noch nie.

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