Kapitel 76 - Angespannt
- Kucki 232
- 23. Juni 2023
- 6 Min. Lesezeit

Heute bin ich sehr nervös. Der Termin im Revier liegt an und ich weiß einfach nicht, wo meine Gedanken noch überall hinwollen. Was erwartet mich da? Werden sie mich Dinge fragen, die ich eigentlich vergessen möchte? Sehe ich Karl? Da weiß ich echt nicht, wie ich da reagieren würde.
Joel wiederum freut sich, dass er wieder zum Praktikum kann. Er soll sich jedoch noch nicht überanstrengen oder so. Aber gut. Ein Anwalt arbeitet mit dem Kopf und nicht mit den Armen.
So räume ich vor dem Termin noch etwas auf und Joel macht mit Alex alles klar.

„Okay, klar. Ich denke, das finde ich.“

Alex habe ich viel zu verdanken. Er war in den letzten Wochen und Monaten die Stütze, die ich gebraucht hatte. Einfach immer mit einem guten Ratschlag zur Stelle. Dafür werde ich mich mal revanchieren.
Aber erstmal habe ich noch eine andere Hürde vor mir. Ist nicht so, dass ich es aus meinem Beruf nicht schon her kenne. Aber diesmal bin ich der, der die Fragen gestellt bekommt.
„Bist du bereit? Wollen wir los?“
„Ja, können wir.“

Auch wenn wir jetzt irgendwo am Ziel angelangt sind, habe ich trotzdem immer noch ein mulmiges Gefühl. Und immer noch sind so viele Fragen offen. Vielleicht rede ich mal mit Sven? Ist er vielleicht der Schlüssel zu all meinen Fragen? Aber will ich das auch? Vieles habe ich in den letzten Tagen über ihn erfahren. Dass sein Gesagtes stimmt. Alex hat mir Urkunden und Dokumente gezeigt. Ich habe meine Mam auf Bildern gesehen. Sie sah aus wie ich. Mam ist jedoch bereit vor 10 Jahren gestorben. Aber ich weiß nicht. Hm.
Wir brauchen ca. eine halbe Stunde nach Newcrest. Es ist bereits Nachmittag und die Dunkelheit nähert sich. Ich versuche mir meine Anspannung nicht ansehen zu lassen, aber Joel ist auch nicht doof. Natürlich bemerkt er es.
Vorher muss ich mich nochmal auf die Bank setzen. Versuche mich zu sortieren. Vergeblich. Warum eigentlich? Eine Aussage noch und dann ist alles vorbei. Das Leben geht dann normal weiter. Also fast. Irgendwie.

Heute bin ich wirklich sehr ruhig. Selbst Joel weiß nicht, was er zu mir sagen soll. Er versucht mich zwar immer aufzumuntern, aber das hat er wohl jetzt aufgegeben. So sitzen wir noch eine Weile vor dem Revier und schweigen.

Schließlich schaue ich ihn nur an und mache mich auf nach drinnen.
„Paps? Warte mal bitte noch. Bevor es reingeht und so.“
Er nimmt mich in den Arm.
„Wir haben es fast geschafft, okay? Einmal noch da rein und dann machen wir wieder unser Ding.“

Es klingt so einfach, wenn er das sagt. So viel, wie in der letzten Zeit zerfallen ist. Ja. Das kann man eben nicht einfach so wegkehren. Recht hat er trotzdem. Eigentlich müsste ich nachher nur rausgehen, wie damals beim Abschluss in der Uni. Einmal noch zurückblicken und ein neuer Abschnitt beginnt.
„Also. Wollen wir?“
Ich nicke nur.

Wochen und Monate. Minuten und Stunden. Einmal noch da rein und dann war's das. Ich habe jedoch immer noch nicht so richtig erfahren, was da jetzt alles passierte. Wer jetzt wie und wo und sowas. Alex, Sven und Emily haben mir zwar ein bisschen erzählt, aber wollte ich das überhaupt hören? Ich schaue mich um und sehe eben nur diese Scherben.
Nur, vielleicht sollte ich diese Scherben erst gar nicht aufsammeln, sondern einfach nur wegkehren und einen ganz anderen Weg gehen? Emily wirklich vergessen. Oder eben alles. Neu anfangen. Was weiß ich? Erstmal muss ich da jetzt rein.

Im Revier schaue ich mich um. Ich kenne hier sogar alle. Klar kenne ich alle. Einige haben mir schon viel geholfen. Aber nun bin ich erstmal der, der hier warten muss. Darauf warten, dass wir aufgerufen werden. Zur letzten Aussage.
„Paps? Meinst du, wir können Katharina vielleicht noch mit in den Urlaub nehmen? Was meinst du?“

Wie kann ich jetzt an Urlaub denken? Ich muss das eine erstmal abhaken, bevor ich das nächste angehen kann.
„Katharina war noch nie in Sulani. Ihre Eltern fahren nie weg. Das weiteste, was sie fahren, ist in die Kirche.“

Sandra kommt zu uns. Eine gute Polizistin. Sie schaut Joel an. Wird er wohl der Erste sein.

Oh, nein. Doch ich. Auch gut.
„Marc? Kommst du dann bitte schon mal mit? Nur ein paar Fragen und dann hast du es überstanden.“
Wir gehen von den Stühlen weg und dann muss ich es doch wissen. Das liegt mir schon die ganze Zeit auf der Seele.
„Sag mal. Ist es möglich, dass ich Sven sehen kann? Ich denke, er sollte seinen Enkel kennenlernen.“

Ich sehe Sven irgendwie mittlerweile nicht mehr als Mörder an. Na klar. Er hat Jimmy getötet. Aus Notwehr. Von Alex habe ich erfahren, dass Jimmy verrückt war. Ja, was heißt verrückt? Sein Problem war, dass er anderen immer die Schuld gab, für irgendwas. Außerdem fühlte er sich immer verfolgt. Trotzdem habe ich noch keine Ahnung, wie er gelebt hatte. Interessiert mich das eigentlich noch? Sollte es doch nicht mehr. Mache ich mir wieder zu viele Gedanken?
Im Moment gehe ich wie ferngesteuert von A nach B. Schon doof. Ich bin erleichtert, angespannt, sauer und traurig zugleich. Immer schaue ich mich um, ob einer wie Karl aussehen könnte. Ab und an gehen Straftäter in Handschellen an mir vorbei. Schaut mich einer an? Wer könnte es sein? Keine Ahnung, wie Karl aussieht, aber wenn ich es rausfinde, dann ....
Okay. Nein. Ich gehe jetzt zu Kerstin und frage nach, ob ich Sven sprechen kann. Sandra konnte es mir nicht sagen.

Ich darf ihn nachher sprechen. Super.
„So, bist du jetzt aber bereit, Marc? Wir müssen hoch.“

Leider kann ich euch nicht mit nach oben nehmen, aber das ist jetzt auch egal. Ich möchte es einfach nur hinter mich bringen.

*****
Wir brauchen ca. eine Stunde. Joel und ich haben es geschafft. Super. Ein bisschen erleichtert bin ich ja doch. Eigentlich weiß ich gar nicht so richtig, warum ich so angespannt war. Bin. Ich muss das noch rausfinden. Auf jeden Fall will ich wegen Jimmy nicht nochmal hierher müssen. Es reicht.
Joel und ich warten wieder, bis wir zu Sven können. Ich habe meinem Sohn noch nicht wirklich viel gesagt. Nur, dass ich eben noch wen besuchen möchte.

„Alter, Paps. Ich hab voll Bock auf Sulani. Klar komm’ ich mit. Voll krass Strand und so. Jo, bin dabei.“
Bis zum Wochenende ist es zwar noch etwas hin, aber jetzt kann ich so langsam planen.

Danach rufe ich Joshua an. Eigentlich mein Stiefsohn. Er kann jedoch am Wochenende nicht. Schade. Mit ihm werde ich aber trotzdem nochmal reden. Das ist mir wichtig.
„Ne, alles gut. Kein Problem. Grüß Alina von mir.“

Zehn Minuten später holt Sandra uns hoch. Sven wartet bereits im Verhörraum. Hier dürfen wir ihn kurz sprechen. Ich kann immer noch nicht so richtig glauben, dass er mein leiblicher Vater sein soll. Die Recherchen deuteten jedoch darauf hin. Aber ich kann mich irgendwie nicht in einem Gefängnis mit ihm über alles unterhalten.
Ich setze mich hin und warte darauf, dass Joel in den Raum kommt.

Sven erzählt mir so lange noch etwas. Selbst er weiß nie so richtig, wo er anfangen soll.
„Ich habe damals verhindert, dass du in die Gang kommst. Ich war selbst drin. Jimmy und deine Mam auch. Es war irgendwo das Einzige, was wir hatten. Weißt du noch an dem Tag, wo du dich das erste Mal mit Emily getroffen hattest? Als du auf der Bank auf jemanden von uns gewartet hast? Niemand kam. Tja. Weil ich es verhindert habe. Ich habe dich von Weitem beobachtet und war froh, dass dieses Mädchen vorbeikam. Ich hätte nie zugelassen, dass du in die Gang kommst.“
Mein biologischer Vater hat mir viel darüber erzählt, dass er irgendwo immer im Hintergrund war und aufgepasst hatte, dass es mir gutgeht. Wie ein Schutzengel. Er war immer kurz davor, sich zu outen, aber das wäre nicht gut gewesen. Und jetzt durch Jimmy sehe ich ihn nach all den Jahren. Sollte ich ihm dankbar sein?
Als Joel jedoch reinkommt, wechselt Sven das Thema.

Ich werde euch vielleicht irgendwann mal die ganze Geschichte erzählen. Wenn ich dazu bereit bin. Ihr denkt euch vielleicht, dass er plötzlich da ist und mir sonst was erzählen kann. Plötzlich sitzt dieser Mann da vor mir, der mein Leben gerettet haben soll und mir unbewusst den Weg gewiesen hat. Irgendwann werdet ihr es verstehen. Versprochen.
„Ich sitze eigentlich nur hier, weil ich danach abgehauen bin. Ich hätte nicht abhauen sollen. Na ja. Was soll ich denn machen? Ich wollte dich nicht mit reinziehen.“

„Paps? Wer ist das denn? Ist das Jimmys Mörder? Hey, das wäre jetzt ziemlich krass.“
„Äh. Das ist. Das ist. Ähm.“


Auch Joel muss ich noch sehr viel erzählen. Selbst er versteht noch nicht alles. Schon gar nicht das hier:
„Hehe. Ich denke, ich bin dein Opa, so bekloppt das auch klingt.“

Mein Sohn schüttelt nur mit dem Kopf und schaut mich unglaubwürdig an.
„Wenn ich hier raus bin, dann werde ich euch alles erzählen. Es tut mir leid. Es sollte eigentlich alles ganz anders enden. Zumindest ohne Jimmy. Und nicht mit mir. Ich äh.“

Die Besuchszeit ist um. Im Endeffekt gehe ich trotzdem mit mehr Fragezeichen raus, als vorher. Und Joel geht es nicht anders. Ich bitte ihn, mir noch etwas Zeit zu geben. Was ich in den letzten Tagen alles erfahren habe, war so viel. Was in den letzten Monaten passiert ist, macht es nicht besser. So viele Informationen. So viel Neues.

So viele Fragen, die auf Antworten warten.

Aber jetzt konzentriere ich mich erstmal auf andere Dinge. Versuche einen Neuanfang. Es wird Zeit.

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